Sch…erziehung

,,Sch...erziehung" meinte Dorothea vorwurfsvoll zum Abschluss ihrer Geschichte. Sie meinte uns, ihre Eltern. Dorothea ist ansonsten durchaus gut erzogen. Dies zeigt sich zwar weniger bei ihren Eltern, dafür aber - Gottlob - überall woanders.

Dorothea zeigte ihre gute Erziehung z. B. in ihrem Heidelberger Verhältnis. Ein ,,Bratkartoffelverhältnis“. Für moderne Singles, Wohngemeinschaftsfans und Studentenwohnheimbewohner hier die Definition:

Bratkartoffelverhältnis nannte man zu Jugendzeiten von Dorotheas Eltern die Beziehung zur Zimmervermieterin. Wenn diese einen auch beköstigte.

Bei jungen Männern und einsamen Vermieterinnen durchaus ein beiderseitig nahrhaftes Verhältnis. Dorothea nun wohnt bei Frau Lang. Frau Lang ist 80 Jahre alt und liebt Dorothea und umgekehrt auch. Eben wegen Dorotheas guter Erziehung. Jedenfalls auch deswegen. Denn Dorothea isst, was auf den Tisch kommt. Das ist bei Frau Lang - Heidelberg gehört schließlich zu Baden-Württemberg - immer was mit Spätzle. Die mag Dorothea.

Aber die Spätzle-Lieblingsvariation von Frau Lang ist für Dorothea lukullische Hölle: Ein Mischmasch von Spätzle und Kartoffeln (vom Vortage) mit Zwiebeln und Äpfeln und einer entsprechend undefinierbar süßsauren Sauce. „Himmel und Erde" heißt die norddeutsche Variante und ich verstehe Dorothea, denn ich wünschte in diesem Zusammenhang den Himmel auch zur Hölle. Aber ich fraß es anstandslos und dankte Großmutter dafür. Auch ich bin gut erzogen.

Dorothea fraß auch Himmel und Erde in sich hinein, mit langen Zähnen und einem Danke aus dem hinteren Kehlkopfbereich. Dabei log sie auch noch, indem sie ausdrücklich lobte, was sie hasste. Und Frau Lang fühlte sich mit ihrem Rezept beglückt, weil auch Dorotheas Vorgängern so mundete, was Dorothea lobte.

Deswegen gab es jenes Essen immer öfter. Dorothea bat schließlich darum, den jeweiligen Nachschlag in eine Tüte auf ihr Zimmer nehmen zu dürfen, wo sie sie in der College-Tasche verstaute und in der Nähe der Akademie versorgte.

Jetzt ist Dorothea fertig mit der Weiterbildung und dem Bratkartoffelverhältnis und erzählte zuhause Freunden, Eltern und Kollegen von den Folgen ihrer guten Erziehung. Dabei traf sie auf Klaus-Wilhelm, von dem sie das Zimmer bei Frau Lang geerbt hatte.

Und siehe: Auch Klaus-Wilhelm hatte alles gefressen. Obwohl er es nicht mochte. Und gelogen. Generationen von Studenten litten wohl - wegen ihrer guten Erziehung. Unter leidvollen Speisen. Die Moral von der Geschicht': Schimpf nicht auf andere Eltern nicht. Die machen denselben Fehler. Sch...erziehung.

 

13.01.2004